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Kabinett 6: Odyssee. Umrisszeichnungen mit Textausschnitten
Bemalte griechische Vasen, zu Tage gefördert bei Grabungen in Campanien und
Unteritalien, gerieten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur sensationel-
len Entdeckung. Legten sie doch eine Spur in das bis dato vergeblich gesuchte
Terrain antiker Malerei. Die Funde unterstützten damals die gänzliche Abkehr von
barocker Prachtanhäufung und den Tändeleien des Rokoko hin zu den strengen
und einfachen Formen eines Klassizismus. Eine Komposition mit zwei aus der
Wand halbseitig heraustretenden Vasen mit mythologischen Figuren wird hier der
Vorstellung aushelfen. John Flaxman hatte aus dem Dekor etruskischer und pom-
pejanischer Vasen „das Wesen griechischer Linearität destilliert“.
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Flaxman gab
Homer, übertragen von Alexander Pope, in reinen Umrisszeichnungen. Er ver-
zichtete auf die Kolorierung. Seine Zeichnungen nach Homer wurden in England
und anderen Ländern begeistert aufgenommen und prägten ein Homer-Bild, das
im 19. Jahrhundert stilbildend wurde. Es wirkt, womöglich eher unterschwellig,
auch heute noch auf die Szenerie von Hollywood-Filmen. Insofern können wir ge-
trost die Brücke zu Wolf Petersens „Troja“ (2004) und zu neun Filmstandbildern
mit Brad Pitt schlagen. Wir nutzen die bibliophile Ausgabe von Anja Grebe
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und
ordnen 9 szenischen Umrisszeichnungen Übersetzungen nach Voß zu.
Hiermit mischen und verbinden sich mindestens drei Rezeptionsstufen Homers:
Die reichlich gefundenen griechischen und etruskischen Vasen künden von der
populären und massenhaften Rezeption homerischer Mythen zwischen dem 6. und
4. Jh. v. Chr., die Umrisszeichnungen Flaxmans und deren Übersetzung in anti-
kisierende Massenware durch die Imitatenindustrie Wedgwoods ab 1770 künden
vom massenhaften Einzug Homers in die „guten Häuser in England und auf dem
Kontinent“
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, die beeindruckende und lange anhaltende Präsenz der Homer-Über-
setzung nach Voß auf dem Buchmarkt belegt ein Einrücken Homers in den Kanon
der Schul-Curricula.
Kabinett 7: Wir öffnen Fenster für Fortsetzungsaktionen
Werke vergangener Zeiten erschließen sich jeweils neuen Generationen anders.
Erinnert sei an das Diktum des Nestors der Rezeptionsästhetik Hans-Georg Ga-
damer, dass alles Verstehen am Ende ein Sich-verstehen sei. Für die Aneignung
des Überlieferten oder Vergangenen wird jede Generation und jeder Mensch
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Christiane Zintzen: Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998, S. 111.
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Anja Grebe: Homer. „Ilias“ und „Odyssee“: die Zeichnungen von John Flaxman (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft), Darmstadt 2013.
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Ernst Beutler: John Flaxman’s Zeichnungen zu Sagen des klassischen Altertums, Leipzig, 1910, S. 1